„Spree“-Ausgaben 2011

Ich betreute „Spree“ als verantwortlicher Redakteur, leitete jeweils die Produktion und gestaltete gemeinsam mit Stephan Lahl das Layout. Christiane Dohnt und Jan Lindenau unterstützten bei Redaktionsleitung und Produktion.

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#1 2011: „Provokant“

Ein verpeiltes Öko- Mädchen aus der Uni sitzt in der Prenzlberg-Tram und isst ihren Kräuterquark aus einem Plastikbecherchen. Ohne Löffel, aber mit dem rechten Zeigefinger. Die anderen Fahrgäste schauen fassungslos und irritiert. Aber wegschauen kann auch niemand.

Was Sex in der Öffentlichkeit, kurze Röcke, bunte Haare oder erhobene Mittelfinger nicht mehr vermögen, gelingt dieser Fingeresserin: Sie provoziert die Menschen um sie herum. Das fällt deshalb auf, weil wir kaum noch ernsthaft geschockt und provoziert werden. Der reflexhafte Ausruf „Wie kann man nur!“ ersetzt tatsächliches Geschocktsein. Liegt es an unserer Lebenserfahrung, oder ist uns einfach alles egal?

Früher konnten wir uns noch stundenlang über Streberschüler aufregen, heute beneiden wir sie für ihren Durchblick. Auch die verbohrten Ökos sind nett geworden, irgendwie menschlich. Echte Provokation funktioniert nur dann, wenn Grenzen übertreten werden – aber gibt es die überhaupt noch? Die letzte wirklich klare Grenze fiel 1989, seitdem regt uns auch nichts mehr auf. Oder fühlt sich jetzt jemand provoziert?

Ach, wirklich?

#2 2011: „Nimm mich“

Mit den Beatles fing es an, später kamen Take That, Caught in the Act, Backstreet Boys, Boyzone, Tokio Hotel und nun Justin Bieber. Mädchen und junge Frauen schreien sich die Stimmbänder wund und heulen sich die Augen aus. Selbstgemalte Plakate versprechen Liebe, Paarungsbereitschaft und Treue. Von anderen als Schwärmerei abgetan, meinen die Mädchen ihr bedingungsloses „Nimm mich“ aber ernst. Und die Jungs in der Band wissen das.

„I wish it was me you chose“, singen Scouting for Girls auf ihrem Debütalbum. Das ist nicht nur an die besungene Dame gerichtet, sondern auch an die Mädchen im Publikum. Auf dem zweiten Album berichten zwei Songs recht direkt von One-Night-Stands. Doch eigentlich lebt die sexuelle Spannung zwischen Publikum und Stars nur von der Illusion der Erfüllbarkeit. Die bei Boybands obligatorischen Tanzeinlagen bestätigen das; schon Woody Allen wusste: „Tanzen ist der vertikale Ausdruck einer horizontalen Begierde.“ Berichte über die tatsächliche Erfüllung solcher – durchaus beiderseitigen – Begierden sind selten.

Im Frühling kochen die Hormone hoch, und jeder sehnt sich danach, nicht allein zu sein. Und das ist selten auf überfüllte Seminarräume bezogen.

#3 2011: „Frei machen“

Die Männer von heute haben es nicht einfach. Früher war eine dicke Wampe das Zeichen von Wohlstand – schon lag einem die Damenwelt zu Füßen. Doch heute gilt rank-schlank-athletisch als Ideal. Was macht ein hart arbeitender Student ohne gesundes Bio-Korrektiv in der WG und Mama als Ernährungsberater? Winterspeck ist ein gesellschaftlich anerkanntes Problem, aber kaum einer spricht über die Sommerwampe. Unabhängig von der eigenen Befindlichkeit muss man sich dem Gruppenzwang im Sommer beugen: Eins, zwei, drei, Oberkörper frei.

Jubel bei Hertha in der Königsklasse, politisches Statement beim CSD, Standardaufzug während der Badesaison – der Sommer zwingt die Herren der Schöpfung, das letzte Hemd bis zum Ende aufzuknöpfen. Wer sich nicht traut, landet auf dem Abstellgleis.

Aber glücklicherweise ist das alles eine Sache der Übung, auch Ausziehen kann gelernt sein. Wer sich überwunden hat und mit freiem Oberkörper in den Spiegel sehen kann, ist bereit für ein größeres Publikum. Experten sind sich einig,dass in den Kreisklassen von Fußball-Berlin eine notorische Unterversorgung an Flitzern herrscht. Wer selbst dafür zu feige ist, der simuliert einfach eine Sommergrippe. Und wartet beim Arzt auf den befreienden Spruch: „Bitte einmal freimachen.“