Der Mensch im Zentrum

Um die Menschen ins Zentrum aller Projekte zu stellen, muss man sie erst einmal kennen. Dabei helfen etablierte Persönlichkeitstypen und situative Verhaltensmuster. Vor allem die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse von Novizen und Experten stellen vor große Herausforderungen. Novize kann jeder in mehrerer Hinsicht sein. Jemand kann zwar fachlich kompetent sein, aber die konkreten Werkzeuge nicht kennen. Oder zwar mit vergleichbaren Werkzeugen vertraut sein, aber in der konkreten Materie eher unerfahren. Im nicht so seltenen Extremfall auch beides. Gleichermaßen gibt es graduelle Unterschiede zwischen Experten hinsichtlich fachlicher Versiertheit und Tool-Vertrautheit.

Nimmt man die Menschen in den Fokus, dann rücken automatisch auch deren Ziele in den Blick. Was wollen sie eigentlich erreichen? Wie kann das Projektergebnis für sie wertstiftend sein? Menschen interessieren sich nur dann für Projektergebnisse, wenn sie „etwas davon haben“, wenn es für sie nützlich oder erleichternd oder zielerreichend wirkt. Dabei ist zwischen internen Menschen (Auftraggebern) und externen Menschen (Nutzern) zu unterscheiden. Die Auftraggeber bezahlen das Projekt. Die Nutzer bezahlen für den erlebten Mehrwert. Zynische Projekte richten sich nach dem Auftraggeber, nehmen das Geld und ignorieren die Nutzer. Gute Projekte definieren gemeinsam mit dem Auftraggeber die Nutzergruppe und richten das Projekt nach diesen aus – was mitunter zu Interessenkonflikten führt.

Je nach Anwendungsfall verschafft man sich einen Überblick über die Nutzer anhand von verschiedenen Systematiken:

Durch diese Perspektive rückt der Mensch tatsächlich ins Zentrum und ist sowohl Ausgangs- als auch Zielpunkt der Aktivitäten. Auch innerhalb jedes Projekts werden unterschiedlichen Rollen von verschiedenen Personen besetzt, von der Projektleitung über Konzepter, Designer und Entwickler bis zum Marketing.

Menschen sind sehr unterschiedlich

Niemand muss Psychologie studieren, um zu wissen, dass Menschen sehr unterschiedlich sein können. Katharine Briggs und Isabel Myers haben den sogenannten Myers-Briggs-Typindikator etabliert, der die Persönlichkeit nach vier Gegensatzpaaren bestimmt:

  • extrovertiert ./. introvertiert
  • empfindend ./. intuitiv
  • perzeptiv ./. bewertend
  • fühlend ./. denkend

Ausgehend davon lassen sich verschiedene Typen definieren. Je nach Veranlagung werden Aufgaben beispielsweise explorativ, kreativ, kollaborativ, sozio-technisch oder determiniert angegangen.

Für uns mag die Erkenntnis genügen, das zwei völlig gegensätzliche Menschen gleichermaßen mit einem Projektergebnis etwas erreichen wollen. Wir könnten zwei unterschiedliche Ansätze erarbeiten, die den jeweiligen Charakteristiken gut entsprechen und dann die Nutzer jeweils entsprechend zum einen oder anderen schicken. Aber abgesehen von der allgemeinen charakterlichen Prägung unterliegen alle Menschen auch situativen Schwankungen. Ein geduldiger Mann kann in bestimmten Situationen sehr ungehalten reagieren, eine nervöse Frau kann in bestimmten Situationen sehr fokussiert und konzentriert arbeiten.

Ist definiert, welche Menschen ein Projektergebnis überhaupt erreichen soll, dann verschafft man sich einen Überblick über die Vielfalt dieser Zielgruppe. Die Zielgruppe orientiert sich meist an demographischen Kriterien – beispielsweise Lebensphase, Familiensituation, Einkommen, Sinus-Milieus – und in dieser finden sich dann Vertreter der verschiedenen Persönlichkeitstypen.

Somit stellt sich zunächst die Frage weniger, welche Persönlichkeit wir adressieren, sondern ob unser Angebot für diesen Menschen überhaupt nützlich ist. Erst in der konkreten Ausgestaltung und Konzeption rücken dann die explorativen, kreativen, kollaborativen, sozio-technischen oder determinierten Interessen ins Blickfeld.

Der Explorative wird das Produkt erkunden und sich eigene Wege suchen. Also ist alles korrekt beschriftet, sinnvoll strukturiert, und es gibt keine Sackgassen.

Der Kreative wird versuchen, die Grenzen des Produkts zu überwinden oder deren Möglichkeiten für neue Zwecke zu nutzen. Daher ist alles gestattet, was keinen direkten Schaden anrichtet.

Der Kollaborative will eine Aufgabe gemeinschaftlich bearbeiten. Also ermöglicht das Produkt die gemeinschaftliche Nutzung, erleichtert den Austausch darüber und unterstützt das gemeinsame Erleben.

Die Sozio-Technischen wollen die Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine optimal nutzen. Nur wenn soziale und technische Aspekte jeweils in sich und auch miteinander in Harmonie sind, kann ein gutes Ergebnis entstehen.

Die Determinierten arbeiten zielgerichtet auf ein bestimmtes Ziel hin, alles andere interessiert sie nicht. Also wird es so einfach wie möglich gestaltet, dieses Ziel zu erreichen.

Persönlichkeitstypen in der Praxis

Ein Programm wie Microsoft Word bietet beispielsweise Vorlagen für die Determinierten, die somit nur noch die benötigten Angaben eintragen. Jederzeit kann eine Datei gespeichert, wieder neu aufgerufen und in verschiedene Dateiformate exportiert werden. Auch das Einlesen zahlreicher Dateiformate ist möglich. Das Verfolgen von Bearbeitungen und die Möglichkeiten zur Online-Zusammenarbeit unterstützen ebenfalls die Kollaboration. Der Explorative kann sich im Ribbon (früher im Menü) stets über alle verfügbaren Optionen informieren und diese bei Eignung anwenden. Für den Kreativen stehen alle Funktionen zur Verfügung, die gerade irgendwie möglich sind (unabhängig davon, ob sie sinnvoll sind), nur gerade unmögliche werden deaktiviert. Die Sozio-Technischen können selbst entscheiden, wie sie Ihre Schreiben verfassen, ob sie sich von Word mittels Vorlagen leiten lassen, mit einer leeren Seite beginnen, ob sie das Dokument im Layout-Modus gestalten oder im Text-Modus einfach nur den Inhalt schreiben wollen.

Dass Microsoft Word im Detail viele Probleme hat, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein mächtiges Werkzeug ist, das für alle Nutzergruppen geeignete Arbeitsmöglichkeiten bereitstellt. Jederzeit kann man seine Arbeitsweise ändern, ohne dass die Software dies mit einer Fehlermeldung quittiert. Das ist erst dann bemerkenswert, wenn man sich aus der Nutzerperspektive herausbegibt. Es gibt zahlreiche Textverarbeitungsprogramme, und jedes hat seine Stärken. Aber so flexibel und arbeitsweisenneutral wie Microsoft Word ist keines. Wer eine bestimmte Arbeitsweise – und nur diese – bevorzugt, kann mit anderen Programmen sehr glücklich und effektiv arbeiten. Kritisch wird es erst dann, wenn man vom kollaborativen in den explorativen Modus oder von der kreativen zur determinierten Arbeitsweise wechseln möchte.

Wie dramatisch ein Zielgruppenwechsel ausfallen kann, erlebte Microsoft, als bei Word die Ribbon-Bedienung eingeführt wurde. Alle Experten mussten auf das neue Bedienparadigma umlernen und fühlten sich zumeist ausgebremst. Eine Software, die Anfang der 1980er mit einer Funktionsvielfalt des heutigen Wordpad gestartet war, hatte sich über die Jahre zu einem komplexen Profi-Werkzeug entwickelt. Der Wechsel zur Ribbon-Bedienung bedeutete den gefühlten Wechsel der Zielgruppe: Weg von den Experten, die mit der vorigen Word-Version wahre Wunder vollbringen konnten, zu den Novizen, die erst einmal die Nutzung einer Textverarbeitung erlernen wollten oder mussten. Auch wenn Word immer noch sehr wirkmächtig ist, verbirgt es seine Power unter einer anfängerfreundlichen Oberfläche. Microsoft als Textverarbeitungs-Marktführer war es gelungen, einen Sprung in der Bedienung zu machen und radikal alte Bediengewohnheiten abzustreifen.

Menschen sind situativ

Sind die Intentionen und Ziele der anvisierten Menschen bekannt, werden am Ende dennoch Probleme auftauchen. Denn Menschen agieren in der realen Welt sehr abhängig von ihrer Stimmung, der Umgebung und anderen Einflüssen. Daher bringt es auch wenig, Menschen zu fragen, was sie wollen – viel aussagekräftiger ist es, sie zu beobachten und nach ihren Zielen und Intentionen zu befragen. Denn gefragte Menschen wollen immer „billiger, schneller, besser“.

Oft zeigen sich Ansätze darin, was Nutzer nicht wollen: bestimmte Probleme, Sackgassen, Beschränkungen, Entscheidungen oder Ablenkungen behindern sie oder verhindern gar ihr erfolgreiches Fortkommen.

Externe Faktoren

Die Intention wird maßgeblich von äußeren und meist unbewussten Faktoren beeinflusst bzw. diese wirken auf die Entscheidung:

  • verfügbare Zeit: Störung, Unruhe, „Flow“
  • verfügbare Ressourcen (Aufwandsbereitschaft, Budget): als konkrete Zahl oder gefühlt
  • Abstimmung mit anderen: Chef, Kollege, Partner oder Kind
  • Umgebung: Geräusche, Gerüche, Ablenkung
  • Zielvorgabe: eigene, fremde

Interne Faktoren

Die tatsächliche Verfassung eines Nutzers ist diesem oft selbst nicht bewusst. Die Entscheidungsfreude hängt wesentlich von diesen Faktoren ab:

  • Ausgeglichenheit: Ruhe, Stress
  • Selbstbewusstsein, Selbstbild: Kompetenz, Souveränität, Angst, Unsicherheit
  • Abhängigkeit: emotional, Ressourcenverfügbarkeit (wer entscheidet über Aufwands- und Budgeteinsatz)
  • Aufmerksamkeit: Wachheit, Rausch, Müdigkeit, etc.

Wechselwilligkeit

Erschwerend kommt hinzu, dass sich Intentionen und Faktoren während der Nutzung ändern können. Jemand, der eine Aufgabe sehr fokussiert anging, wird durch einen frischen Gedanken unerwartet abgelenkt und agiert fahrig und unaufmerksam. Aus einer „Ich probier das jetzt mal“-Situation kann eine intensive Nutzung erwachsen.

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